Teil 1: Vom „Gerippte“
Jeder Besucher einer Apfelweinwirtschaft in Frankfurt und Umgebung kennt es, wenn er Apfelwein bestellt: das typische konisch-zylindrische Glas mit dem Rautenmuster. Das „Gerippte“ wie es im Volksmund heißt ist für den hessischen Apfelwein das Glas schlechthin und Puristen des Tranks können sich kein anderes dafür vorstellen. Dies scheint einzigartig, gibt es doch für alle anderen Getränke meist mehrere Glasformen. So kann das Bier in Humpen, Stangen oder Tulpen ausgeschenkt, Wein in Römern, Kelchen oder im Becher kredenzt und Sekt in Flöten oder Schalen gereicht werden. Gewiss gibt es noch mehr Formen für diese Getränke, die hier nicht alle aufgezählt werden können.
Für den Apfelwein scheint es nur diese eine Form zu geben und gegeben zu haben.
Zumindest gilt dies für den hessischen, insbesondere den Frankfurter Raum. Auch in anderen Apfelweingebieten hat sich eine solche Trinkbecherkultur etabliert. Im moselfränkischen Raum wird der Viez im Viezporz oder kurz Porz (meist 0,4 l, inzwischen auch 0,2 l) dargereicht, einem aus weißem Porzellan oder Steingut bestehenden Henkelbecher. In Süddeutschland und in Österreich wird der Most traditionell in gläsernen Henkelkrügen serviert. Diese Einzigartigkeit der Trinkgefäße könnte mit der Einzigartigkeit des Getränkes korrelieren – doch woher kommt das ?
Das typische Apfelweinglas im hessischen Raum verdankt seinen Namen dem rautenartigen Muster und den dadurch entstehenden Rippen auf dem Glas. Wenn man es genau nimmt, haben zumindest die heutigen Glaser keine Rippen, lediglich zur Glaswandung geneigte eingepresste Rauten. Über die Entstehung des „Gerippten“ kursieren im wesentlichen zwei Begründungen. Dieses Muster ermöglichte einen guten Griff und Halt des Glases wenn die Hände vom Essen fettig waren. So lautet eine der beliebten Erklärungen zur Entstehung des Gerippten. Wirft man einen Blick auf die typischen Frankfurter Speisen wie Rippchen mit Kraut, Würstchen, Haspel oder Handkäs mit oder ohne Musik kann man bestätigen: diese Speisen sind fettlastig. Doch nur die Wurst, sei es das Frankfurter Würstchen, die Fleischwurst oder die Rindswurst - wurde und wird mal aus der Hand gegessen. Alle anderen Speisen führte und führt der Hungrige mit Messer bzw. Messer und Gabel zum Mund. Auch wenn die Gabel in den bürgerlichen Haushalten erst spät Einzug hielt, so war sie zumindest im 19. Jahrhundert üblich und weit verbreitet. Viel plausibler erscheint eine zweite Erklärung. Die Rippen bzw. Rauten im Glas brechen das Licht und erzeugen einen schönen Glanz. Das dadurch entstehende Spiel von Licht und Brechung des besonderen Glasmusters ließ den damals noch eher trüben Apfelwein klarer beziehungsweise reiner erscheinen, also auch appetitlicher und dem höherwertig eingeschätzten Wein ähnlicher. Und auch heute noch funkelt und leuchtet der Apfelwein dem Trinker entgegen.
Beide Erklärungen für das Gerippte sind vorstellbar. Doch beide beziehen sich auf das
„früher“ – sei es, dass damals eher die Finger der Hand die Gabel ersetzten und das Glas damit besseren Halt bot oder dass der Apfelwein eher trübe war und er mit dem Muster im Glas „wertiger“ aussah. Daher scheint es geboten, dieses „früher“ einmal näher zu beleuchten und zu hinterfragen, seit wann die gerippten Gläser im Frankfurter Raum üblich wurden. In vielen Veröffentlichungen zum Thema werden vage Angaben gemacht: früher oder vor Jahrhunderten. Eine Angabe bezieht sich auf ein Gemälde eines Kölner Malers aus dem Jahre 1464. Hier hält wohl einer der Abgebildeten ein Glas mit deutlichem Rippenmuster in der Hand. Ob dieses allerdings als „erstes“ Apfelweinglas bezeichnet werden kann ist fraglich.
Sicherlich ist es hilfreich, sich den Herstellungsprozess eines Glases anzuschauen, um sich dem Apfelweinglas und dessen Ursprung zu nähern . Die Herstellung von Glas ist der Menschheit seit Jahrtausenden bekannt, der älteste Glaskelch stammt aus Ägypten und datiert ca. 1450 v. Chr. In der Antike wurde die Technik der Glasherstellung insbesondere durch die Römer ständig verbessert und erreichte auch die nördlich der Alpen liegenden Länder. Die seit dem Mittelalter im Mundblasverfahren hergestellten Gläser benötigten neben den Grundstoffen Quarzsand und Holzkohle auch Brennholz zum Beheizen der Schmelzöfen. Der Einfachheit halber baute man die Glashütten in den Wäldern und das dort hergestellte Glas nannte man Waldglas.
Auch im Kahlgrund bei Schöllkrippen im Spessart gab es Waldglashütten, die seit
dem 17. Jahrhundert Gläser mit Rautenmuster herstellten. Doch ob diese als Vorläufer des Gerippten anzusehen sind, ist ungewiss. (1) Zumal das handwerklich aufwendig hergestellte Glas sich nur Vermögende, sprich Adel und reiche Kaufleute, leisten
konnten. Glas war lange Zeit ein Luxusgut und diente oftmals nur als Tischschmuck für die Tafeln der Reichen. So ist es kaum vorstellbar, dass schon vor dem 18. Jahrhundert Trinkgläser Einzug in die Wohnungen der einfachen Leute oder in die (Kranz-)Wirtschaften gehalten haben.
Das typische Apfelweinglas hessischer Prägung ist eher ein Produkt des späten 19.
Jahrhunderts. Erst die Einführung des Pressglasverfahrens macht die Massenproduktion von Trinkgläsern möglich und erschwinglich. Die ersten Fertigungslinien für Pressglas wurden 1825 und 1828 in der Nähe von Boston errichtet. Besondere Bedeutung für die industrielle Herstellung von Pressglas hatten der Luftkolben bzw. die Pressluft und vor allem die in den 1820er Jahren erfundene Handhebelpresse. Weil die Gläser nicht mehr gedreht werden konnten, ging man sehr bald von den verschleißanfälligen Holzformen auf Formen aus Metall über. Die Pressform trägt in der Regel ein Muster, während der Stempel, der das Glas an die Wand der Form drückt, glatt bzw. eben ist. Beim Einblasen mit Pressluft ist die innere Oberfläche zwar auch glatt, folgt aber den äußeren Formen des Glases. Die mehrteiligen Pressformen hinterlassen außen am fertigen Produkt sichtbare Pressnähte. Die industrielle Massenproduktion brachte dem Pressglas auch den Beinamen „Glas der armen Leute“ ein.(2)
Wie im herkömmlichen Herstellungsverfahren wurde das Schmelzgut per Pfeife in eine Hohlform eingeführt und mit Pressluft in eine Form eingeblasen. Diese bestand anfangs wie im traditionellen Bereich aus Holz, wurde später aber durch Gusseisen ersetzt. Die Pressglasherstellung in Deutschland begann verzögert Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde parallel zum herkömmlichen Mundblasverfahren eingeführt. Somit ist erklärbar, dass es durchaus Apfelweingläser mit Rautenmuster aus einer handwerklich hochwertigen „Mundblasproduktion“ gab, diese aber alsbald vom technisierten Pressglasverfahren abgelöst wurde.
In den 1940er Jahren interessierte sich der Frankfurter Journalist Emerich Reeck für die Geschichte des Apfelweins und setzte sich auf die Fährte des Gerippten. Er hatte 1942 Kontakt mit verschiedenen Glashütten aufgenommen, in der Hoffnung, Näheres über die Herkunft des Apfelweinglases zu erfahren. Die Preß- und Hohlglas-Fabrik G. Becker & Co (Georgshütte) in Boffzen an der Weser teilte ihm mit, dass dort „um 1900 herum Apfelweinbecher in der ganz schweren Ausführung mit dickem
Boden in geblasen mit den sogenannten Augen oder Tupfen“ in großen Mengen hergestellt wurden. Die Frankfurter Firma Franz Nachf. bezog dann dieses mundgeblasene Glas in „kariert mit glattem Mundrand und poliertem Boden in leichterer Ausführung“. Die gepresste Version „in scharf und schwach kariert“ hatte die Glasfabrik dann von 1918 bis 1920 im Programm.(3) Die älteste Pressglasfabrik Sachsens, die 1865 gegründete Sachsenglas AG bzw. Sächsische Glasfabrik August Walther & Söhne aus Radeberg, hatte das Apfelweinglas um 1880 in ihr Programm aufgenommen. Die Rippenoptik der mundgeblasenen Trinkgläser wurde mittels Verlustformen in das Glas gebracht, erst dann wurde das Glas auf die richtige Größe aufgeblasen. (4)
Auch die Hohl- und Pressglashüttenwerke Gebrüder Malky in Freital gaben die Auskunft, dass sie das Apfelweinglas schon „seit 50 Jahren fabrizieren“, damit also seit ca. 1890. Dabei war der Herstellungsprozess aufwendig, neun verschiedene Glashandwerker waren an dem Produkt des „Apfelweinbechers“ beteiligt. Auch hier wurde das Glas zuerst in eine Holz- später in eine Eisenform eingeblasen. Seit der Einführung des Pressverfahrens wurde das „Quantum Glasschmelze“ per Eisenstab an die Pressform mit den „langgezogenen Vierecken“ gebracht, dann mit einem Stempel eingedrückt. Nun wurde die Rohform verwärmt, d. h. unter nochmaligem Erhitzen die scharfen Ränder geglättet, zudem bekam es eine Feuerpolitur. Danach musste es wieder
aufgetrieben werden, um die zuvor durch das abermalige Erhitzen verlorene Form wieder zu erlangen. Durch den folgenden Abkühlprozess wurde der Boden oftmals wieder rauh und uneben, daher erfolgte ein Schleifgang. Zuletzt brachte man den Eichstrich und die Inhaltsangabe mittels Sandstrahlverfahren an. „Der Apfelweintrinker der den köstlichen Trunk zu Munde führt, ist sich wohl dessen nicht bewußt“, so Franz Malky in seinem Schreiben an Reeck und bedauerte weiter: "Welche Hütten das Glas vor uns hergestellt haben, entzieht sich unserer Kenntnis, wir werden aber wohl eine der ersten Hütten gewesen sein, die die Fabrikation aufnahmen.“(5)
Die Apfelweingläser wurden auch in den Glashütten in Bad Driburg, Paderborn, Boffzen oder Neuenbeken gefertigt. „Und“, so teilte der in Driburg geborene Eigentümer des Glaswerks Rietschen mit, „solange diese Hütten in Betrieb waren wurden dort Apfelweingläser hergestellt.“(6) Diese Aussage nennt aber wie die Quellen zuvor keinen genauen Zeitpunkt für das Apfelweinglas, das Gerippte.
Auch Helmut Lenz, Initiator und Mitbegründer des früheren
Apfelweinmuseums in Frankfurt, Sammler und Liebhaber des Apfelweins, hatte sich auf die Spuren des Dreigestirns begeben. Seine intensive Recherchen in der Fachliteratur brachten keine konkreten Erkenntnisse. Im Gegensatz zum Prunkgeschirr des Adels und des wohlhabenden Bürgertums, das bis heute in Sammlungen der Museen aufbewahrt wird, waren die eher schlichten Apfelweingläser nur Gebrauchsgeschirr und „niemand kam auf den Gedanken, Gebrauchsgegenstände der einfachen Art über Jahrhunderte zu sammeln.“, so seine Begründung, warum so wenig alte Gläser überliefert sind. Lediglich die Grundform des zylindrischen Bechers war schon seit Jahrhunderten bekannt. In einem Katalog des Kunstgewerbemuseums Köln findet sich ein Becher mit Kreuzrippenmuster abgebildet, das in das 15. bzw. 16. Jahrhundert datiert wird. Und auch das Frankfurter Museum für Kunsthandwerk nennt zwei Becher mit diagonaler s-förmiger Rippung, die in das 17. Jahrhundert datiert werden. Diese Stücke können laut Lenz aber nur als Vorläufer angesehen werden. Erst in der Formsammlung des Braunschweiger Museums findet sich erstmals ein Apfelmostbecher, hellgrün, optisch mit der Herkunft Hessen und in die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert. „Dort kann das offensichtlich älteste deutsche Äpfelweinglas besichtigt werden“, folgerte Lenz. Dennoch zeigte er sich überzeugt von der These, dass das Apfelweinglas seinen Ursprung in den Waldglashütten des Spessarts hat.(7)
Die heute typischen Apfelweingläser haben sich kaum gewandelt in Form oder Dekor. Lediglich die Herstellungsverfahren haben sich etwas geändert, auch Größe, Beschriftung und Rautenmuster. Im Großen und Ganzen aber ist das für Hessen typische Apfelweinglas mindestens seit 1880 in etwa gleich geblieben und damit
ein Traditionsmerkmal. Vor Mitte des 19. Jahrhunderts wird es den Becher mit Rautenmuster kaum gegeben haben, und wenn, dann nicht unbedingt nur für den
Apfelwein. Erst die Massenproduktion machte das Glas generell und damit das Apfelweinglas insbesondere konsumtauglich. Und erst die Massenproduktion des
Apfelweins im selben Zeitraum durch die ersten fabrikmäßigen Dampfkeltereien setzte das „Nationalgetränk der Frankfurter“ durch. Damit einher erfolgte auch der erhöhte Bedarf an Gläsern für die vielen Wirtschaften, aber auch Privathaushalte.
Das Gerippte heute wird als Schoppenglas über die Theke gereicht, obgleich der Schoppen als Hohlmaß in Frankfurt früher fast 0,4 l bemaß. Heute sind meist 0,25 l das übliche ausgeschenkte Maß. Frankfurter „Utzer und Schenner“ nennen es Beschisserglas im Gegensatz zum heute selten gewordene 0,3 l fassenden Glas, da viele Wirte den alten Preis beibehielten und nur das Fassungsvermögen verringerten. Das 0,3 l Glas wird daher von vielen als das traditionelle Schoppenmaß betrachtet. Blickt man aber in die Musterbücher der Glashütten, ist auffällig, dass schon um 1900 ganze Apfelweinbecherserien mit Eichungen von 0,2 l, 0,25 l, 0,3 l bis 0,5 l bzw. in 4/20 l, 5/20 l und 6/20 l angeboten wurden. Dabei nannte man das kleinste Glas mit 0,2 l „Salöngchen“. Das größte bislang produzierte Apfelweinglas ist ein Einzelstück und fasst 80 Liter. Es wurde im Jahr 2014 von einer Limburger Glashütte gefertigt, ist 75 cm hoch und hat am oberen Rand einen Durchmesser von 50cm. Es bekam ein Eintrag in das Guinnessbuch der Rekorde.(8)
In der Frankfurter Gaststätte Oberschweinstiege hingegen kann man Gläser mit einem Fassungsvermögen von 0,1 l erwerben, wobei hier das Rautenmuster ins Glas geritzt ist. Heute sind die Eichmaße 0,25 l, 0,3 l und 0,5 l die gebräuchlichsten. Neben den gläsernen Apfelweinbechern gibt es auch solche aus Kunststoff in den unterschiedlichsten Farben. Und das Hochhaus am Westhafen wird wegen der rautenförmigen Glasfassade im Volksmund „Geripptes“ genannt.
©Fritz Koch
Ich danke für die freundliche Unterstützung von Frau Wessendorf www-glas-musterbuch.de
Dieser Aufsatz erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Der Autor nimmt gerne weitere Hinweise zum Thema an und freut sich über Anmerkungen.
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(1) Kurz, Werner, Vom Waldglas zum Gerippte (Vortrag Hirzbacher Kapelle) in: Hanauer Anzeiger vom 9.09.2015. Zu den Glashütten dort und im Taunus, vgl. auch Stepphuhn, Peter: Konservierung – Rekonstruktion – Nachbau. Zur Problematik von Schutz und Präsentation eines archäologischen Denkmals.
(2) vgl. Wikipedia Artikel Preßglas
(3) ISG S6b/7 Nachlass Reeck
(4) Ebda. Zuvor sollen nach Auskunft der Sachsenglas AG diese Art Gläser in Glashütten in Steinschönau/Böhmen hergestellt worden sein.
(5) Ebda. Brief von Franz Malky an Reeck vom 10. Feb. 1942
(6) Ebda, Schreiben vom 29.6.1942
(7) ISG Nachlass Lenz
(8) Weilburger Tagblatt vom 28.7.2014